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Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 09

Diese Geschichte ist real. Wir haben die wundervolle Erlaubnis bekommen, die Erinnerungen einer guten Freundin veröffentlichen zu dürfen. Ein ganz, ganz lieber Dank und Gruß gehen an Ankatrin! (Text: Ankatrin G., Lektorat: Gaby K., Sandra S., Bilder: #WirHabenDieWahl).

Kapitel

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Ausgangs- und Stromsperre

In den ersten Monaten der Besatzungszeit war es den deutschen Mitbürgern nicht erlaubt, sich abends nach zehn Uhr auf der Straße aufzuhalten.

Für uns Kinder spielte das natürlich gar keine Rolle – wir mussten zu dieser Zeit ohnehin schon längst im Bett liegen. Aber die Erwachsenen konnten sich abends nicht mehr so verhalten, wie sie es gerne getan hätten: Freunde oder Nachbarn besuchen, um Karten zu spielen oder auch nur ganz einfach zu “klönen”.

Für die Erwachsenen bedeutete dies ganz sicher eine Beeinträchtigung, für mich als kleines Mädchen war es eher eine wunderbare Beruhigung, dass ich abends ganz gewiss nicht allein war, meine Mutter sich immer in meiner Nähe befand. Und wenn ich wollte und mal länger wach lag, dann konnte ich den Gesprächen der Erwachsenen lauschen.

Auf diese Art bekam ich denn auch mit, dass meine Mutter sich und den Mitbewohnern die Karten legte. Und dass man mit einem Ring, der an einem langen Haar hing, über den Bildern von Vermissten auspendelte, ob diese noch lebten oder vielleicht doch nicht mehr wiederkämen.

Immer drehte es sich bei dieser mysteriösen Art der Unterhaltung um die Männer, die noch immer irgendwo in Europa – wie man hoffte – in Gefangenschaft waren oder sich auf dem Weg in die Heimat befänden.

Manchmal trafen sich auch mehr als nur die Bewohner des Hauses, um einen Geist zu beschwören, was man dann “Tischrücken” nannte. Da alle, die nicht im Hause wohnten, um 10 Uhr wieder bei sich Zuhause sein mussten, geschah dies natürlich zu einer Uhrzeit, wo ich nicht unbedingt schon schlief. So bekam ich durchaus die Geräusche aus dem Wohnzimmer mit, und manchmal habe ich mich ganz schön gefürchtet.

Die Stromsperrzeiten, die wir teilweise täglich hatten, habe ich in einer ganz besonderen Erinnerung.

Wir hatten ein Klavier und meine Mutter spielte häufig für uns Kinder darauf, um mit uns zu singen. In der dunkleren Jahreszeit, wenn wir bereits den Kachelofen heizten, wurde bei Stromsperre die Ofenklappe geöffnet, so dass das schwache Licht der Glut den Raum ein wenig erhellte.

Man muss sich das nicht so vorstellen, dass einfach die Tür der Feuerstelle offen stand – das wäre wohl doch zu gefährlich gewesen – nein, die Ofentür hatte eine Einteilung mit kleinen Fenstern – ich weiß nicht, was das für ein Material war – fast so durchsichtig war wie Glas. Ich erinnere mich, dass diese Fenster aus mehreren Schichten eines durchsichtigen Materials bestanden, und dass man vor diese Fenster eine Eisenklappe schieben konnten.

Bei Stromsperre also entriegelte meine Mutter diese Klappe und das weiche Licht des Ofenfeuers erhellte schwach den Wohnraum. Das war immer die Tageszeit, da meine Mutter sich ans Klavier setzte und Kinderlieder spielte. Wir beide haben dann gesungen.

Meine Mutter hatte eine ausgebildete Stimme und ich weiß, dass ich mich von klein auf an immer bemühte, es ihr gleich zu tun. Meine Mutter unterstützte denn auch mein Bemühen mit viel Lob und gab mir immer die Gewissheit, eine schöne Stimme zu haben. Sie behauptete sogar, dass der “liebe Gott” mir eine viel schönere Stimme geschenkt habe als ihr. Das war wohl auch der Grund, warum ich später ebenfalls Gesang studierte, es nur leider nie mehr genutzt habe – außer für die Kinderlieder, die ich später meinen Kindern vorgesungen habe.

Es gab aber auch Dämmerstunden, in denen meine Mutter mit mir auf dem Schoß vor dem Ofen saß, meine Tante und auch mein Bruder saßen bei uns, und meine Mutter erzählte dann Märchen von den Gebrüdern Grimm, von Bechstein und Andersen.

Am meisten von allen Märchen beeindruckte mich jenes “Von dem, der auszog, das Fürchten zu lernen”. Es war ganz gewiss nicht das schönste Märchen, aber ich fürchtete mich jedes Mal so schrecklich, dass ich mich an meine Mutter klammerte, und sie sich oftmals weigerte, weiterzuerzählen. Dann bettelte ich so lange, bis sie doch weitererzählte.

Irgendwie habe ich bis heute nicht verstanden, warum ich mich unbedingt fürchten wollte, aber ich habe den Verdacht, dass ich auf diese Art und Weise instinktiv versucht habe, die ganzen Ängste der Bombennächte zu verarbeiten. Hier war ich in Sicherheit: Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter, es war fast so dunkel wie im Luftschutzkeller. Aber alles, was wirklich passierte, war lediglich die Tatsache, dass meine Mutter mir ein Märchen zum Fürchten erzählte, während ich mich in Sicherheit befand.

Eine andere Erklärung habe ich bis heute nicht dafür gefunden, aber bis heute liebe ich Märchen. Hin und wieder lese ich sie noch, und dann tauche ich ein in die Erinnerung an meine Kindheit.

* * * * *

Das war Kapitel 9

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© Copyright by ABGrundke seit 2017. Jede Verteilung, Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung ist untersagt und muss von der Autorin ausdrücklich genehmigt werden. Erstveröffentlichung 2017 via Gaby Konradt und Kassandra von Troya ("Hand in Hand zur Menschlichkeit"). Zweite Fassung und Gestaltung 2021 #wirhabendiewahl

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