Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 01 – wirhabendiewahl.net

Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 01

Diese Geschichte ist real. Wir haben die wundervolle Erlaubnis bekommen, die Erinnerungen einer guten Freundin veröffentlichen zu dürfen. Ein ganz, ganz lieber Dank und Gruß gehen an Ankatrin! (Text: Ankatrin G., Lektorat: Gaby K., Sandra S., Bilder: #WirHabenDieWahl).

Kapitel

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Kapitel 1 – Letzte Tage der Angst und Zusammenbruch

Weihnachten 1944 war vorüber. Meine Mutter, mein Bruder und ich hatten die Feiertage bei der Schwester meiner Mutter in einer kleinen 2-Zimmer Mansardenwohnung gefeiert. “Gefeiert” – ach Gott, in der Erinnerung wollen keine feierlichen Gedanken aufkommen. Natürlich waren da weder Weihnachtsbaum noch Geschenke. Meine Mutter hatte meiner Puppe Ulrich/Ulrike  – je nach Kleidung – ein paar Sachen zum Anziehen genäht, und dann war da das Springtau. Vor Freude mußte ich es gleich ausprobieren und setzte somit dem Adventskranz ein frühes Ende. Ein Eimer Wasser konnte den Schaden beheben.

Wir waren zu meiner Tante gezogen, weil wir nicht in der Lage waren, unsere Wohnung zu beheizen – die Kohlezuteilung reichte hinten und vorne nicht, auch wenn mein Bruder und ich beim Ausladen der Kohlenhändler immer in der Nähe waren und die heruntergefallenen Eierbriketts aufsammelten. Der “Kohlenklau” ging überall um und wir gehörten dazu.

Außer einem extrem kalten Winter bescherte uns das Jahr 1945 die langen Reihen von Flüchtlingstrecks – elende, sich hinschleppende Menschen, die in Gaststätten, Tanzlokalen, Turnhallen und privat untergebracht wurden. Als wir im Frühjahr wieder in unsere Wohnung einzogen, war aus der kleinen dreiköpfigen Familie, die um den Vater bangte, da man lange keine Nachricht aus dem Feld erhalten hatte, plötzlich eine Großfamilie geworden.

Menschen hausten auf dem Dachboden und in den Wohnräumen wurde zusammengerückt. Einzige Kochstelle war in dieser Zeit und während der folgenden Jahre ein kleiner Eisenofen, liebevoll “Hexe” genannt. Es handelte sich hierbei um einen kleinen Eisenofen mit den Ausmaßen von ca.30×50 cm.

Er hatte 2 Kochstellen, die durch Ringe gedeckt waren und sich einzeln von der Mitte nach außen zu herausnehmen ließen. Auf diesem kleinen Ungetüm wurden Windeln und Wäsche gekocht, Mittagessen bereitet und an kühlen Tagen diente er zum Aufwärmen der Hände.

Während der ganzen letzten Monate vor Kriegsende gab es kaum eine Nacht, in der wir nicht in den Luftschutzkeller oder Bunker mussten. Geschlafen wurde im Trainingsanzug, damit man jederzeit – ohne sich großartig anziehen zu müssen – die mit dem wichtigsten Hab und Gut gepackten Taschen greifen und sich in Sicherheit bringen konnte. Mein Gott, was hatte ich für eine Angst! Vom Voralarm bis zu Entwarnung war ich ein zitterndes 7-jähriges, kleines Mädchen, das mal laut, mal leise vor sich hinweinte.

Wir wohnten in Bad Schwartau bei Lübeck, also nahe der Lübecker Bucht, und wann immer sich die feindlichen Bomber der Bucht näherten – meistens, um in Richtung Berlin abzudrehen – hatten wir Bombenalarm. Auf dem Rückflug wurden dann die restlichen Brandbomben gelegentlich auch schon mal über unserer kleinen Stadt abgeworfen. Das machte die Angst noch intensiver.

Im April 1945 kam ein ganz neues “Geräusch” hinzu – man hörte ein langanhaltendes Grollen wie ferner Donner. Schon sehr bald stellte sich heraus, dass dies die russischen Panzer waren, die bis Schlutup anrollten.

Durch die Flüchtlinge aus dem Osten hatten wir wahre Greuelgeschichten vom Einmarsch der Russen gehört und so begann meine Mutter, die Abseite an der Küche “wohnlich” einzurichten. Sie brachte Matratzen und Bettzeug in die Abseite, in der wir uns notfalls verstecken wollten, falls die Russen bis nach Bad Schwartau kamen. Vor die Tür zur Abseite wollte sie dann den Küchenschrank rücken.

Von Sonnenaufgang bis zum Abend waren im Wald Sägen und Äxte zu hören. Jeder, der eine Axt halten konnte – besonders natürlich die Hitlerjugend – musste Bäume fällen, damit die Pioniere mit den Baumstämmen Panzersperren an “strategisch wichtigen Punkten” errichten konnten – welch eine Farce, wenn man bedenkt, wie nutzlos diese Monster waren und welch einen Verlauf das Ganze nach der Kapitulation nahm.

Ich weiß nicht, was ich damals fühlte. In meiner Erinnerung an diese letzten Wochen spielen Empfindungen überhaupt keine Rolle. Durch den frühen Verlust meines ältesten Bruders vor St. Petersburg war ich ein sehr waches, aber auch für Situationen sehr empfängliches Kind geworden. Ich folgte aufmerksam den Gesprächen der Erwachsenen, hörte Sätze von Kapitulation und spürte die Hoffnungslosigkeit. Umso gieriger lauschte ich den Durchhalteparolen. Nein, ich wollte einfach nicht wahrhaben, dass sich “unser Führer” geirrt hatte, dass mein Bruder so sinnlos gefallen war, dass der Feind kam. Der Feind – ganz plötzlich schien sich in mir etwas zu regen. Eine ungewisse, neue Angst machte sich breit, die ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht recht wahrnahm.

Doch dann war es soweit! Der Tag der Kapitulation, der Einmarsch fremder Truppen, die feindlichen Uniformen – nichts davon werde ich je vergessen können. In diesem Moment brach die ganze Angst vor den fremden Soldaten aus mir heraus: ich schrie, weinte und beschimpfte die Soldaten, die in meinem kindlichen Verständnis für den Tod des von mir angebeteten großen Bruders verantwortlich waren. Der tiefe Schmerz, der mir heute noch gegenwärtig ist, über den Tod des geliebten Bruders, die Enttäuschung über die Niederlage, die Angst vor den Fremden, die bis zu dem Tag unsere Feinde gewesen waren, und die Ungewissheit über das, was diese Fremden nun, da sie in unserer unmittelbaren Nähe waren, mit uns vielleicht anstellen könnten – all das war für ein kleines Mädchen von 7 Jahren ein Stück zu viel.

Ich rannte nach Hause, wollte mich von meiner Mutter trösten lassen, meinen zweiten Bruder sehen, Fragen stellen, meine Angst loswerden – ich weiß nicht mehr genau und hätte es auch damals nicht zu sagen gewusst, was ich alles davon erhoffte, endlich zu Hause zu sein, die vertrauten Gesichter um mich zu haben.

Als ich zu Hause ankam, waren außer meiner Mutter und meinem Bruder auch sämtliche Flüchtlinge, die wir bei uns beherbergten, im Wohnzimmer – wir hatten das Wohnzimmer schon lange nicht mehr wie früher genutzt. Ich spürte sofort eine seltsame Stimmung im Raum. Ich spürte die Niedergeschlagenheit, meine eigene Angst kam mir entgegen und es war auf eine besondere Art still und gleichzeitig unnatürlich schrill. Ich sah in rote, verweinte Augen, hektisch und zugleich verstört wirkende Gesichter. Schwaden von gerauchten Zigaretten hingen in der Luft. Und dann sah ich Weinflaschen – weiß der Teufel, wo die herkamen! Alle schienen zu feiern. Langsam begriff ich, dass der Wein mehr der Betäubung als der Ausgelassenheit diente. Ich weiß nicht, warum ich das verstand, aber ich hatte verstanden. Ich stand da, noch immer völlig durcheinander, zitternd wie beim Bombenalarm und fragte in die Gesichter über mir: “Darf ich auch mal probieren?” Erst jetzt bemerkten die Erwachsenen, dass ich schon eine ganze Weile dort gestanden haben musste. Ich muss wohl einen erbarmungswürdigen Anblick abgegeben haben, jedenfalls lachte keiner über mich. Stattdessen wurde mir ein Glas mit etwas Wein gereicht und irgendjemand sagte: “Jetzt brauchst Du keine Angst mehr vor den Bombern zu haben”. Ich fühlte mich ein wenig erleichtert, aber Angst – die Angst war noch immer da.

Weil ich sehr lange Haare hatte, durfte ich an diesem Abend meine Zöpfe auflösen – die Haare reichten bis weit über die Hüfte. Meine Mutter gab mir irgendeinen langen Schal und ich durfte für alle tanzen. Und ich tanzte und tanzte und war für einen Abend La Jana. Alles woran ich mich erinnere ist, dass ich mit dem Gefühl der Unwirklichkeit tanzte und tanzte.

* * * * *

Das war Kapitel 1

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© Copyright by ABGrundke seit 2017. Jede Verteilung, Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung ist untersagt und muss von der Autorin ausdrücklich genehmigt werden. Erstveröffentlichung 2017 via Gaby Konradt und Kassandra von Troya ("Hand in Hand zur Menschlichkeit"). Zweite Fassung und Gestaltung 2021 #wirhabendiewahl

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