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Ankatrins Erinnerungen – Kapitel 13

Diese Geschichte ist real. Wir haben die wundervolle Erlaubnis bekommen, die Erinnerungen einer guten Freundin veröffentlichen zu dürfen. Ein ganz, ganz lieber Dank und Gruß gehen an Ankatrin! (Text: Ankatrin G., Lektorat: Gaby K., Sandra S., Bilder: #WirHabenDieWahl).

Kapitel

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Notunterkünfte

Von der Unterbringung der Flüchtlinge in Gasthäusern, auf Tanzdielen, Dachböden und Baracken war bereits die Rede. Wer das miterlebt hat, dem braucht man die Zustände in solchen Massenunterkünften ganz sicher nicht zu schildern.

Aber unsere Kinder haben nicht die geringste Ahnung von dieser Zeit und oft ist ihnen auch in der Schule nichts, was sich außerhalb der politischen Ebene abspielte, beigebracht worden.

Alle, die wir bei Kriegsende das Glück hatten, in unserer Heimat bleiben zu können, sollten noch heute dankbar sein, dass uns das Schicksal, in Flüchtlingslagern leben zu müssen, erspart blieb.

Auch ich gehöre zu den Glücklichen, die wenigstens trotz allen Hungerns, Schacherns und Handelns sowie Kämpfens ums Tägliche im Elternhaus leben durfte, wenn auch unter sehr beengten Umständen, aber es war und blieb doch das Zuhause. Es blieb jedoch nicht aus, dass auch wir mit den Umständen, unter denen die Flüchtlinge lebten, konfrontiert wurden.

Kinder schlossen Freundschaften, spielten miteinander genauso wie unter normalen Umständen, wenn auch mit primitivem und manchmal selbstgebasteltem Spielzeug. Ob Hunger, arm oder reich: Kinder freunden sich immer an aus dem ganz natürlichen Drang, miteinander zu spielen.

Auf diesem Wege ging ich alsbald in einem Flüchtlingslager aus und ein, das sich in einem Tanzsaal eines Gasthofes befand. Dieser Gasthof, den man im Jahr 1994 abgerissen hat, war am Anfang der Bahnhofstraße. Hinter der Gaststube befand sich jener große Tanzsaal, in dem eine Reihe von Familien untergebracht waren.

Man muss sich das so vorstellen, dass jede Familie soviel Platz zugewiesen bekam, wie sie für die Anzahl der Familienmitglieder Platz zum Schlafen brauchte. Zwischen diesem ihnen zugewiesenen Platz und dem der unmittelbar angrenzenden nächsten Familie war ein Tau gespannt, das man mit Decken zum Sichtschutz abgehängt hatte.

Man konnte einander also nicht unmittelbar sehen, aber jedes gesprochene Wort, das leiseste Geräusch wurde von der Nachbarfamilie wahrgenommen. Es gab nichts, was verborgen blieb. Was wir heute mit Intimsphäre bezeichnen und so hoch schätzen, das gab es einfach nicht. Und doch wurden Kinder gezeugt und geboren.

Zudem waren die hygienischen Zustände katastrophal: es gab zwei Toiletten, zwei Waschbecken, keine Dusche und sicher mehr als 40 Personen, die sich die Toiletten und Waschgelegenheiten teilen mussten.

Auf der Trave lagen die größeren Schiffe, die es unter teilweise dramatischen Umständen geschafft hatten, Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands bis hierher zu transportieren. Aber statt nun endlich aus den engen Verhältnissen auf dem Schiff herauszukommen, mussten die Menschen auf dem Schiff bleiben und versuchen, hier zu leben.

Ich weiß, dass ich sehr oft in der Nähe dieser Schiffe war, das bunte Treiben an Deck – im Sommer spielte sich eben vieles im Freien ab – beobachten konnte, aber ich habe mich niemals getraut, eines dieser Schiffe zu betreten. Obwohl ich inzwischen einige Kinder kannte, die wie ich in der Trave badeten und mit denen man spielen konnte – ich hatte irgendwie Angst, auf eines der Schiffe zu gehen.

Ich denke, dass ich zu viel vom Untergang der Schiffe auf der Ostsee gehört hatte. Nicht alle Schiffe waren wegen der Kriegsverhältnisse untergegangen, einige waren auch wegen Überladung gesunken. Daran werde ich wohl immer gedacht haben, weshalb ich schließlich auch nicht bereit war, auch nur einen Fuß auf eines dieser Schiffe zu setzen.

In unserem Buchenwald nahe der Bahnhofstraße entstanden die sogenannten Nissenhütten. Wellblechhütten mit gerundetem Dach, die allerdings im Vergleich zu den Tanzsälen schon einen besonderen Luxus boten: Hier gab es einzelne Zimmer. Ganz sicher waren diese Zimmer recht hellhörig, aber sie gaben doch den dort Untergebrachten ein Gefühl von Geborgenheit und Intimität.

Und dann waren da noch die Baracken: Holzhäuser, die so mancher Familie mehr als nur ein Zimmer boten. Jede Familie, die eine solche Behausung ergattert hatte, konnte sich überglücklich schätzen.

In dieser Zeit verschenkte meine Mutter allerlei Dinge an die, die gar nichts hatten: Haushaltsgegenstände, überflüssiges, auf dem Boden abgestelltes Mobiliar und auch Kleidungsstücke.

Wenn ich hier das Wort “überflüssig” benutze, dann meine ich keine Gegenstände, die wir heute mit Sperrmüll bezeichnen würden. Nein, es waren Möbelstücke aus Erbschaften oder solche, die man nach einem Umzug nicht mehr stellen konnte, die aber zu gut waren, um sie zu entsorgen. Es waren also solide Möbel und gut brauchbare Gegenstände.

Ihr Standardspruch war: “Solange ich noch ein Hemd zum Wechseln habe, kann ich den Rest auch an Ärmere verschenken.“

* * * * *

Das war Kapitel 13

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© Copyright by ABGrundke seit 2017. Jede Verteilung, Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung ist untersagt und muss von der Autorin ausdrücklich genehmigt werden. Erstveröffentlichung 2017 via Gaby Konradt und Kassandra von Troya ("Hand in Hand zur Menschlichkeit"). Zweite Fassung und Gestaltung 2021 #wirhabendiewahl

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